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die audiovisuelle montagslounge im wirr untergrund

 
so, meinen geburtstag, der treffenderweise auf einen aschermittwoch fiel, hab ich halbwegs gut überstanden, indem ich mich halbwegs von der außenwelt fern hielt, wobei ich mich natürlich dafür entschuldigen will, nicht im b72 zugegen gewesen zu sein.

aber vielleicht versteht ihr, dass ich mal wieder einen tag der stillen trauer für mich und das gedenken an meine familie nützen wollte. und welcher tag eignet sich da besser als die mischkulanz aus geburtstag und aschermittwoch, also bitte:

so manche kinder am land helfen bei der ernährung der familie mit, indem sie vom rübenacker ein paar kohlenhydratreiche erdgewächse stiebitzen oder im wald preiselbeeren sammeln gehen. in der stadt, wo ich aufgewachsen bin, bedient man sich der kinder allerdings zur anhäufung von pekuniären mitteln, um sich am markte der bauern wiederum mit lebenserhaltenden nährstoffen in form von z.b. grießschrot oder pfifferlingen einzudecken.

ich selbst hatte ja eigentlich großes glück. ich konnte mich auf die schule konzentrieren, auch wenn ich ehrlich sagen muss, dass der rauch der großen fabrikschlote in der stadt auch an mir nicht folgenlos vorbeizog. meinen zwölf brüdern und fünfzehn meiner siebzehn schwestern ging es da aber schon wesentlich schlechter, aber leset selbst...

wir lebten alle zusammen - papa, mama, meine neunundzwanzig geschwister und ich - in einem kleinen kellerzimmer. von einer souterrainwohnung zu sprechen, ist, gelinde gesagt, ein ungerechtfertigter euphemismus, der unserem loch niemals gerecht werden würde. immerhin war unser kleiner raum im vierten untergeschoss einer alten leerstehenden baracke aus einem der weltkriege. warum wir allerdings nicht ebenerdig wohnten, wenn das ding sowieso leerstand, weiß ich bis heute nicht. jedenfalls leide ich noch heute an rachitis. aber besser an rachitis zu leiden, als das mitzumachen, was dem großteil meiner geschwister geschah. ich leide sozusagen nicht mal an rachitis, ich zelebriere sie, jeden tag, jede nacht, immer, wann immer ich an das leid meiner geschwister zurückdenke.

also, wie schon erwähnt, hatte ich großes glück, da ich einfach nur schüler war. dazu kam es, weil ich der jüngste sohn meiner eltern war und dies einen gehörigen vorteil mit sich brachte. jedes meiner geschwister musste im volkschulantrittsalter einen eignungstest für den schulbesuch ableisten. meine brüder bereiteten sich natürlich gewissenhaft darauf vor, doch jedesmal dachten sich meine eltern, dass vielleicht ein jüngerer bruder noch talentierter sein könnte. so gelangte von meinen brüdern einer nach dem anderen in die hiesige schnürsenkelfabrik. ich hatte aber ganz einfach das glück, der jüngste sohn zu sein. auch hatten meine eltern ganz einfach keine lust mehr, nach mir noch einen sohn zur welt zu bringen. das wussten sie bereits, als ich in das alter des tests gekommen war, also gewährten sie mir schließlich als einzigem sohn, trotz schlechtestem testergebnis von allen, den schulbesuch, während die anderen tagein tagaus in der fabrik schufteten. bei meinen schwestern war es kaum anders. nur zwei von ihnen durften in die schule gehen. es ist für mich immer noch ein rätsel, warum es gleich zwei waren, die quasi das glück mit dem löffel in sich schaufeln durften.

die restlichen fünfzehn schwestern erleideten ein ähnliches schicksal wie die arbeitenden brüder. sie wurden auf die einkaufsstraßen geschickt, um sich dort als näherinnen und schuhputzerinnen für die arrogant fröhlich flanierenden schnösel zur verfügung zu stellen.

an und für sich wäre dies ja keine besondere familiengeschichte, wenn ich nicht auch noch von dem unglück erzählen müsste, das meine arbeitenden geschwister ereilt hat. nun, jene fünfzehn schwestern hatten einfach enormes pech, dass in den siebziger- und achtziger-jahren die weltweite erdölkrise ihre opfer forderte. das reiche pack war zwar so wohlhabend, dass sich jeder von diesen landlords und pilzfarmpräsidenten mindestens fünf automobile leisten konnte, wenn aber das öl, also das benzin, aus war, dann nutzten ihnen die großen fuhrparks auch nichts. zu eben jener zeit hatte jemand die glorreiche idee, dass menschen ja im laufe der zeit selbst zu erdöl werden, also gut brennen müssten. nachdem es keine hexen mehr gab, da diese bereits in den jahrhunderten davor verbrannt wurden, mussten nun also arme straßenkinder herhalten. so landeten meine fünfzehn straßenschwestern der reihe nach in den tanks großkotziger nobelkarossen. und das alles nur, damit deren besitzer stolzierend über die ringstraße fahren konnten. das kotzt mich noch heute dermaßen an, wenn ich daran denke, dass ich über das leid meiner schwestern gar keine worte mehr verlieren will. mir ist bereits etwas übel. ich hoffe, ihr versteht das.

immerhin, meine brüder waren in sicherheit, da sie ja nicht auf der straße arbeiteten. sie hatten es, so gesehen, gut in der schnürsenkelfabrik, auch wenn mir jetzt natürlich abermals tränen aus den augen kullern, da die floskel "so gesehen" eher unpassend ist. denn gesehen hatten wir die brüder eigentlich kaum mehr, nachdem sie in der fabrik zu arbeiten begannen. sie wurden dort einkaserniert, um sich völlig auf ihre arbeit konzentrieren zu können. so erfuhr ich auch erst jahre später von dem tragischen augenblick... nein, ich kann das jetzt nicht vorwegnehmen, sonst kann das ja niemand mehr lesen, weil ja alle in weinkrämpfe ausbrechen, wenn sie bereits jetzt erfahren, was meinen brüdern widerfahren ist.

also, meine zwölf brüder arbeiteten in der schnürsenkelfabrik. dort bildeten sie auch die werksfußballmannschaft und waren dabei äußerst erfolgreich. eines tages jedoch kamen die werksfußballligenfunktionäre dahinter, dass sie stets zu zwölft antraten, was natürlich einen klaren verstoß gegen die international üblichen fußballregeln bedeutet. die bisherigen resultate wurden zwar nicht annulliert, aber von nun an mussten sie natürlich zu elft antreten. das war aber kein so leichtes unterfangen, da sie sich weigerten, dass einer von ihnen auf der ersatzbank platz nehmen müsse. immerhin waren sie spielerisch alle gleich begabt und von ebenfalls gleich enorm stattlicher statur. so traten sie für kurze zeit in einen spielstreik. da die werksfußballmannschaft mit ihren erfolgen aber das ein und alles für die schnürsenkelfabrik darstellte, war der fabriksbesitzer äußerst erbost, als plötzlich der spielbetrieb eingestellt werden sollte, nur weil einfach keine einigung erzielt werden konnte, dass einer von meinen brüdern nicht spielen solle. irgendwie konnte er sie dann doch davon überzeugen, wieder zu spielen. allerdings hatte jeder von ihnen seinen eigenen plan. und diese pläne waren unglücklicherweise alle dieselben, nämlich suizid zu begehen, damit die anderen elf in aller ruhe und gewissheit spielen konnten. so nahm sich, nicht wissend, dass jeder von ihnen so handelte, jeder für sich sein leben. die fabrik stand nun komplett ohne arbeiter und fußballmannschaft da und ging sehr bald bankrott. immerhin konnten meine eltern, als sie jahre später von dem vorfall erfuhren, noch eine gehörige schadensgutmachung von dem industriellen herauslocken. ich glaube, das war an jenem tag, als mein vater eines morgens unser kellerloch mit einem großen holzscheit in der hand verließ und am abend mit einem schlüssel für ein schmuckes reihenhaus am stadtrand und einem sack kartoffeln zurückkehrte. was wir mit dem haus sollten, wo wir nun endgültig nur mehr zu fünft waren, wusste ich zwar nicht. immerhin gab es aber endlich wieder etwas vernünftiges zu essen.

da, wie ich im nachhinein erfuhr, meine brüder ausgerechnet an meinem geburtstag ihre leben aufgaben, um den jeweils anderen zu dienen, ist für mich der geburtstag kein großer freudentag mehr. auch jedes mal, wenn es kartoffeln gibt, überkommt mich große trauer, aber in der öffentlichkeit versuche ich sie doch zu verbergen.

ich hoffe, ihr habt verständnis für mein verhalten bezüglich festivitäten jeder art. ich feiere lieber innerlich für mich ganz allein, dass ich glück hatte, und zwar jeden tag. ausgerechnet mein geburtstag dient mir aber eher zur trauer.
 
resident of twoday.net
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